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Literatur

Mit dem Terra nova Preis wird 2023 erstmals ein Buch ausgezeichnet, das der Stiftungsrat aus den Werken ausgewählt hat, die von den für die vier Schweizer Landessprachen zuständigen Jurys nominiert wurden. Der Terra nova Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ist somit der Schweizer Literaturpreis, der diesen Namen verdient: Er wird in Kenntnis des literarischen Schaffens in der ganzen, mehrsprachigen Schweiz für ein Erstlingswerk verliehen.

Der mit 5’000. – CHF dotierte Preis kann an Autorinnen oder Autoren gehen, die die Schweizer Nationalität besitzen oder mindestens seit fünf Jahren in der Schweiz leben. Es gilt keine Altersbegrenzung.

Im Selbstverlag publizierte Werke können nicht berücksichtigt werden.

 

Ralph Tharayil

Nimm die Alpen weg

Dresden : Azur – Voland & Quist, 2023

Jurybegründung:

Schon die Form von Ralph Tharayils poetischem Erstling lässt aufhorchen: Sätze, fast unverbunden sind locker über die Seiten verstreut. Ein jeder lädt ein zum Innehalten und zum Nachdenken. Ist das nicht eher ein langes Gedicht als ein Roman? Oder ein Theaterstück, ein langer Monolog von zwei Geschwistern, die in der Wir-Form ihren Alltag protokollieren. Rasch wird die spezielle Atmosphäre ihres Aufwachsens erlebbar: Der Emigrationshintergrund bedeutet Enge. Vater und Mutter, als vierarmiges Doppelwesen wahrgenommen, rackern sich ab, die beiden Kinder sind ihnen ausgeliefert, aber durch ihren Integrationsvorsprung auch überlegen. Schulkameraden, die sie zuhause besuchen, machen ihnen ihr Fremdsein bewusst. Mit ihren Fahrrädern brechen sie aus in ihre Spielrefugien am Stadtrand. So kommen sie auf ihre eigenen Beine. Die Präzision im Detail und der Verzicht auf alles Ausmalen erlauben Verallgemeinerung und gestatten es den Leserinnen und Lesern, in dieser ganz speziellen Kindheit und Adoleszenz ihre eigene wiederzufinden.

Ralph Tharayil, 1986 als Sohn indischer Migranten in der Schweiz geboren, studierte Geschichte, Medien- und Literaturwissenschaft in Basel und arbeitete währenddessen als Autor, Theaterschaffender und Musiker, später als Texter in Hamburger Werbeagenturen. Er entwickelt, auch in Kollaborationen, Konzepte und Texte für Audioformate und Performances und schreibt Prosa und Lyrik, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde, u.a. mit dem Preis für Prosa beim 25. open mike. ‹Nimm die Alpen weg› ist sein literarisches Debüt, für das er mit einer Einladung zur Autor:innenwerkstatt des LCB, dem Alfred Döblin-Stipendium und der Alfred Döblin-Medaille ausgezeichnet wurde. Ralph Tharayil lebt in Berlin.» (https://www.voland-quist.de/wppb_authors/ralph-tharayil/)

 

Für den Preis nominiert waren ausserdem:

Maxence Marchand für Timidité des cimes, Lausanne, La Veilleuse, 2023

 

Preisverleihung vom 23. Juni 2024 im Literaturhaus Thurgau

Bodmannhaus in Gottlieben

Lorenz Zubler, Präsident der Thurgauischen Bodmann-Stiftung, der Preisträger Ralph Tharayil, Dr. Dominik Müller, Präsident der Schweizerischen Schillerstiftung

 

Laudatio, gehalten von Dominik Müller

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

Ich möchte Sie nun auch noch im Namen der Schweizerischen Schillerstiftung herzlich zu diesem Abend begrüssen. Die Verantwortlichen des Bodman-Hauses und der Stiftungsrat der Schillerstiftung haben unabhängig voneinander grosses Gefallen gefunden an Ralph Tharayils Erstling Nimm die Alpen weg. So tun wir uns heute zusammen, um diesem Buch und seinem Autor die Ehre zu erweisen. Ich möchte der Bodman-Stiftung, insbesondere Monika Fischer und Lorenz Zubler herzlich danken für das Gastrecht in diesem wunderbaren Haus und für die freundschaftliche Vorbereitung des heutigen Abends.

Da ich nicht davon ausgehen kann, dass Sie alle wissen, wer oder was die Schillerstiftung ist, erlaube ich mir, Ihnen diese kurz vorzustellen.

Die Schweizerische Schillerstiftung ist eine sehr alte Institution, die älteste, die sich in der Schweiz ganz der Literaturförderung widmet. Als sie 1905, in Schillers hundertstem Todesjahr, gegründet wurde, stand ihr zwar die Deutsche Schillerstiftung Pate. Sie verstand sich aber von Anfang an als eine schweizerische Institution und versammelte in ihrem Stiftungsrat – daran hat sich bis heute nichts geändert – Vertreter und seit 50 Jahren auch Vertreterinnen aller vier Sprachregionen der Schweiz.

Die Stiftung kümmerte sich in einer Zeit, in der es weder AHV noch IV gab, um notleidende Schrift­stellerinnen und Schriftsteller und deren Angehörige und Hinterbliebene. Erst nach und nach machte sie sich einen Namen mit ihren Preisen, den ersten und anfänglich auch den wichtigsten literarischen Auszeichnungen unseres Landes. Im Schnitt alle fünf Jahre wurde ein Grosser Schillerpreis vergeben. Zum letzten Mal passierte das 2012, als Giovanni Orelli und Peter Bichsel damit ausgezeichnet wurden. Aber längst betrieben Kantone, Städte und andere Institutionen ihre eigene Literaturförderung, und 2012 begann auch die Eidgenossenschaft damit, ihre eigenen Preise zu vergeben. Die Schillerstiftung erfand sich neu: mit der Schaffung der Terra Nova Preise für literarische Erstlingswerke und 2023 mit der Schaffung des Viceversa-Preises für literarisches Übersetzen. Nach wie vor machen die Mehrsprachigkeit und der Einsatz für qualitätvoll-innovative, risikobereite Literatur die Raison d’être unserer Institution aus.

Zu dieser passt die Gewinnerin des Viceversa-Preises 2024, Camille Logos, die den sprachlichen Part von Lika Nüsslis Graphic Novel: Starkes Ding – das Buch wurde hier ja kürzlich auch vorgestellt – ins Französische übersetzt hat. Und zur Zielsetzung, innovative, risikobereite Literatur zu würdigen, passt Ralph Thrayil literarischer Erstling Nimm die Alpen weg, der den Terra-Nova Preis 2024 erhält.

Was hat den Stiftungsrat bewogen, dieses Buch in einem Jahr auszuzeichnen, in dem ihm nur schon auf Deutsch über vierzig literarische Erstlinge vorlagen?

Schon allein die Form von Ralph Tharayil poetischem Erstling lässt aufhorchen: Sätze, fast unverbunden, sind locker über die Seiten verstreut. Ein jeder lädt ein zum Innehalten und zum Nachdenken: zwangs­läufig verlangsamt sich der Lesefluss. Auf dem Buch steht zwar «Roman». Aber handelt es sich da nicht eher um ein langes Gedicht? Oder um ein Theaterstück, einen langen Monolog von zwei Geschwistern, Schulkindern, die in der Wir-Form aus dem unmittelbaren Erleben ihren Alltag kommentieren? – im Präsens, mit kindlicher Prägnanz, die oft auch zum Schmunzeln Anlass gibt. Kindlichem Erleben Sprache zu verleihen, ist ein literarisches Erfolgsrezept, dem wir grossartige Bücher verdanken, Gottfried Kellers Grünen Heinrich, Robert Walsers Fritz Kochers Aufsätze, Hanna Johansens Die Analphabetin. Es kann aber auch gründlich missraten, denn ein falscher, erkünstelter Kinderton ist etwas Unerträgliches. Die schreibenden Erwachsenen haben ja keinen unmittelbaren Zugang mehr zur Welt der Kinder. Beobachtungs­vermögen und Erin­nerungen müssen sich mit einer literarischen Erfindungskraft vereinen, um dieser Welt Sprache zu verleihen. Was bei Ralph Tharayil einfach tönt, ist das Ergebnis einer komplizierten Operation: ein sehr poetischer Text.

Ein poetischer Text? Was heisst das aber eigentlich? Ist die Bestimmung nicht einfach nur eine Floskel? Erwarten Sie keine allgemeingültige Definition. Auf den Fall von Nimm die Alpen weg gemünzt, könnte man vielleicht einfach sagen: da liegt ein Buch vor, das nicht in einer vorgefertigten, vordergründig sach­lichen Sprache geschrieben ist, vielmehr in einer, die eigens dafür kreiert wurde. Natürlich: wir kennen, mit wenigen Ausnahmen, die verwendeten Wörter, wir kennen auch die Redensarten des Alltags, die darin aufgenommen wurden. Auch die deutsche Grammatik wird eingehalten. Nichts wirkt forciert, und doch ist diese Sprache ungewohnt. Und damit hält sich auch unsere Aufmerksamkeit für sie wach. Vielleicht würde man die Sache auch treffen, wenn man einfach sagte: Aus dem, was diese poetische Sprache uns mitteilt, kann man nicht einen Inhalt extrahieren und in anderen Worten wiedergeben. Der Inhalt ist ohne genau die Sprache, die hier dafür verwendet wurde, nicht greifbar.

So kann ich Ihnen auch nur Annäherungen anbieten, wenn ich jetzt doch auf den Inhalt von Nimm die Alpen weg eingehe. – Sie müssen das Buch einfach selber lesen (wenn Sie es nicht schon getan haben).

Die Eltern der beiden Schulkinder, denen wir zuhören, sind aus einem fremden Land in die Schweiz gekommen. Wenige Sätze genügen, und wir sind mittendrin in einer speziellen Familienatmosphäre:

Wir sind zu zweit, wir sind

zu viert.

Wir können die Enge kaum berühren.

Wir sitzen uns

im Nacken.

(S. 6)

Die beiden Kinder nehmen «Pa und Ma», Vater und Mutter, als vierarmiges Doppelwesen wahr.

Sie sagen:

stressstressstress

euretwegen

alles

für euch.

(S. 16)

Die Kinder sind der Fürsorge der Eltern ausgeliefert. Und die Eltern sind dem Einverständnis der Kinder mit dieser Fürsorge und deren Integrationsvorsprung ausgeliefert. Schulkameraden, die sie zuhause besuchen, machen ihnen ihr Fremdsein bewusst.

Bevor am Ende des Buches dann der grosse Ausbruchsversuch stattfindet, der neue Tatsachen schaffen dürfte, obwohl die Polizei die Flüchtenden stellt, brechen die Kinder schon vorher immer wieder mit ihren Fahrrädern aus in ihre Spielrefugien am Stadtrand. So kommen sie auf ihre eigenen Beine.

Die Darstellungsweis des Buches ist viel zu karg für das, was man «Milieuschilderung» nennt. Mit knapp­sten Mittel werden aber sprechende Episoden evoziert: in der Schule, beim Arzt, im Freibad, am Hambur­gerstand, wo der Vater einen neuen Job findet. Der Körper als Gegenstand und als Medium von Wahr­nehmungen ist allgegenwärtig: Haut, Haare, Zähne bzw. Zahnlücken, Fingernägel beschäftigen die Kinder, ebenso gewisse Speisen.

Im Verhältnis dazu werden kulturelle Differenzen fassbar, etwa anlässlich der mütterlichen Zahnhygiene oder des Versuchs, mit einem Fondue-Essen Assimilation zu üben. In den meisten Fällen erlauben uns aber die Detailpräzision und der Verzicht auf alles Ausmalen, in dieser ganz speziellen Kindheit auch unsere eigene wiederzufinden. Das Buch handelt auf präzise, lehrreiche Art von Immigrantenkindern, aber es handelt auch einfach von Kindern in einer kleinen Familie. Es handelt von der spezifischen Macht und Ohnmacht von Kindern in einer Immigrantenfamilie, aber auch allgemein von kindlicher Macht und Ohnmacht, von der wärmenden Fürsorge von Eltern und dem kindlichen Zwiespalt zwischen Dankbarkeit und dem notwendigen Ausbruch aus dem Familienkokon.

Mit einer ganz eigenen, lakonischen Darstellungsform gelingt Ralph Tharayil in Nimm die Alpen weg eine Art Quadratur des Zirkels: dem speziellen Fall und dem ganz Allgemeinen gleichermassen Rechnung zu tragen.