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ZKB SCHILLERPREIS

Der mit 20’000 CHF dotierte ZKB Schillerpreis wird alljährlich von der Zürcher Kantonalbank (ZKB) an regionale Autorinnen oder Autoren vergeben. Der Preis zeichnet Autorinnen und Autoren aus, die mit ihren Werken die Schweizer Literaturszene bereichern und prägen.

Auf Vorschlag des Stiftungsrates der Schweizerischen Schillerstiftung wird der Literaturpreis schon seit 1979 ausgerichtet und ist somit das ältestes Literaturengagement der Zürcher Kantonalbank. Mit diesem Beitrag fördert und unterstützt die ZKB die Literaturszene des Wirtschaftsraums Zürich. Unser Engagement

 

Gianna Molinari

Hinter der Hecke die Welt (Aufbau Verlag 2023)

Jurybegründung:

Schauplätze von Gianna Molinaris zweitem Roman sind ein kleines Dorf und ein Forschungsschiff in der Arktis. In fein miteinander verzahnten Episoden und Geschichten erzählt „Hinter der Hecke die Welt“ von den Bemühungen der Dorfbewohnerinnen und -bewohnern, das Aussterben des Dorfes abzuwenden, vom Eis und seiner Erforschung, von Tieren und Pflanzen und den politischen Ansprüchen auf die Polarregionen. Imaginiertes, Recherchiertes und Beobachtetes werden dabei souverän miteinander verschmolzen. Gianna Molinari ist ein gleichermassen aktuelles wie poetisches Buch gelungen, das sich der Klimathematik mit literarischen Mitteln annimmt.

Gianna Molinari, 1988 in Basel geboren, studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel und Neuere Deutsche Literatur an der Universität Lausanne. Sie hat in Zeitschriften und Anthologien veröffentlicht und begründete die Kunstaktionsgruppe „Literatur für das, was passiert“ und das Autorinnenkollektiv „RAUF“ mit. Ihr 2018 erschienenes Romandebüt „Hier ist noch alles möglich“ wurde mehrfach ausgezeichnet und war für den Deutschen und den Schweizer Buchpreis nominiert.

 

PREISVERLEIHUNG VOM 24. JUNI 2024 IM LITERATURHAUS ZÜRICH

Preisübergabe von Dr. Jörg Müller-Ganz, Präsident des Bankrats
der Zürcher Kantonalbank, an Gianna Molinari

 

Laudatio, gehalten von Dr. Bettina Braun

 

Sehr geehrte Damen und Herren,

der Preis, den wir heute feiern, heisst ZKB Schillerpreis. Er wird von der Zürcher Kantonalbank vergeben. Die schweizerische Schillerstiftung stellt das Label zur Verfügung und hat die schöne Aufgabe, die Preisträgerinnen und Preisträger vorzuschlagen. Der deutschsprachigen Jury, die diesen Vorschlag vorbereitet hat, gehören Ruth Gantert, Dominik Müller und ich an.

Gianna Molinaris erster Roman Hier ist noch alles möglich, 2018 im Aufbau Verlag erschienen, erzählt von einer Kartonfabrik kurz vor ihrer Stilllegung. Eine junge Frau wird als Nachtwächterin für das weitgehend verlassene Fabrikgelände eingestellt. Von einer Übergangs- und Schwellensituation und einem Ort, der von der Auflösung und vom Verschwinden bedroht ist, handelt auch Hinter der Hecke die Welt. Der Roman spielt in einem namenlosen Dorf, in dem nur noch etwas mehr als eine Handvoll Menschen leben. Die Bewohner bemühen sich, das Aussterben des Dorfes aufzuhalten. Ihre Hoffnung richtet sich auf die beiden Kinder Pina und Lobo sowie auf eine mysteriöse Hecke am Dorfrand, die durch ihre Grösse zur Touristenattraktion wurde. Pina und Lobo aber wachsen seit zwei Jahren nicht mehr. Die Hecke allerdings wächst beständig, sie nimmt im Verlauf der Erzählung jedoch Schaden, sodass immer weniger Touristinnen und Touristen kommen. Der zweite Schauplatz des Romans ist ein Forschungsschiff in der Arktis, auf dem Dora, Pinas Mutter, unterwegs ist. Dora hat das Dorf verlassen und begleitet eine Meeresforscherin auf einer Forschungsreise. Sie hilft bei geologischen Untersuchungen mit, beobachtet die Landschaft und schickt Karsten, ihrem Mann, und Pina Sprachnachrichten, in denen sie Geschichten erzählt. Die Arktis ist dem kleinen Dorf in ihrer Weite und schweren Fassbarkeit entgegengesetzt. Doch ist auch hier etwas am Schwinden: Durch die Erderwärmung schmilzt das Eis und wird zur globalen Bedrohung. Hinter der Hecke die Welt behandelt in beiden Welten und Handlungssträngen, die unterschiedlich realitätsnah gezeichnet sind, das Thema des Verschwindens. Gross und Klein werden dabei nicht nur miteinander konfrontiert, der Roman verweist auch darauf, auf der inhaltlichen Ebene wie durch seine Machart, wie Kleines und Grosses miteinander zusammenhängen und sich ineinander spiegeln.

Ein eindrückliches Bild dafür sind die Eisbohrkerne, an denen sich, wie die Forscherin ausführt, die Geschichte ablesen lasse. Bedeutendere und unbedeutendere Ereignisse, kleine und grosse Organismen würden im Eis Spuren hinterlassen und in ihm konserviert. Das Eis der schmelzenden Gletscher bezeichnet sie daher als «ein Gedächtnis kurz vor dem Vergessen». In Bezug auf die Pestzeit, die sich im Eis dadurch ablesen lässt, dass keine Pollen zu finden sind, da die Menschen nicht in der Lage waren, die Felder zu bestellen, heisst es: «Auch das Fehlende also erzählt.» (S. 51)

Mit Leerstellen und Lücken arbeitet auch der Text. In den Dorf-Episoden wird den Leserinnen und Lesern eine erzählte Welt vorgeführt, die nach ihren eigenen Regeln funktioniert und teilweise surreale Züge hat. Während die Sphäre des Forschungsschiffs realistisch gezeichnet ist, haben die Szenen im Dorf etwas von einem Märchen. Für die Motivation der Figuren werden kaum Erklärungen gegeben. Die wenigen im Dorf zurückgebliebenen Bewohner erhalten erst nach und nach – dies ist besonders reizvoll – mehr Kontur. Die reduzierte Darstellung verzichtet insbesondere weitgehend darauf, zu illustrieren. Analog zum Dorf, das nur anhand weniger Details, wie der Hecke oder dem starken Wind beschrieben wird, kommen in den Kapiteln zur Arktis-Expedition keine ausführlichen Beschreibungen der Landschaft vor. Stattdessen finden sich kurze, sich nah an der Wahrnehmung und Vorstellung von Dora bewegende Abschnitte, die durch ihre Kürze und Reduktion, das Imposante der Arktis zum Ausdruck bringen. Ich lese hier eine Stelle zum Nordpol: «Dora stellt sich vor, am geographischen Nordpol zu stehen, auf 90 Grad Nord. Unter ihr vier Meter dickes Eis. Und unter dem Eis der Arktische Ozean, viertausendzweihunderteinundsechzig Meter tief. Und unter der Wassermasse der arktische Grund.» (S. 23) Hinter der Hecke die Welt integriert naturwissenschaftliches Wissen und verschmilzt es souverän mit Imaginiertem und Beobachtetem.

Der Roman setzt sich von einer romantisierten und klischierten Darstellung der Polarregionen ab. Die Schwierigkeit, die Schönheit und Imposanz der Arktis festzuhalten, «andere Bilder als die Hochglanzpapierbilder» (S. 52) wiederzugeben, ist wiederholt auch Thema. Diese fragende, sich den Gegenständen annähernde Haltung ist auch als Gegenbewegung zu Beschreibungen in älteren Forschungs- und Expeditionsberichten zu verstehen, mit Hilfe derer es auch darum ging, Herrschaftsansprüche zu legitimieren und zu festigen. Ein Kapitel in Hinter der Hecke die Welt behandelt die Grönland-Expeditionen des Schweizer Geophysikers und Meteorologen Alfred de Quervain von 1909 und 1912/13. In den Zeitungsberichten davon konnten die Leserinnen und Leser «das Entstehen einer alpin-arktischen Heldenerzählung, ein Sich-Einschreiben in die arktische Geschichte und die Arktisforschung» (S. 55) verfolgen.

Zum vorsichtigen Gestus passt das Kleinteilige des Buchs und dass nicht linear erzählt wird. Die Kapitel gliedern sich in einzelne Abschnitte, die teils unverbunden aufeinander folgen. Zwischen einzelnen Kapiteln sind weitere kurze Erzählungen eingelassen. Und auch die Figuren erzählen Geschichten. Die verschiedenen Texte sind durch ein Netz von Bezügen zueinander in Beziehung gesetzt. Mit der Abbildung reduzierter Schwarz-Weiss-Zeichnungen von Gianna Molinari und Filmstills kommt noch eine visuelle Ebene hinzu. Die Lesenden werden durch den Roman getragen durch die rhythmische Sprache, die poetisch und voller Sprachwitz ist. Sie hat einen ganz eigenen Ton und entwickelt einen Sog. An dieser Stelle soll nicht unerwähnt bleiben, dass Hinter der Hecke die Welt trotz der ernsthaften Themen und einer eher melancholischen Grundstimmung auch ein sehr komisches Buch ist, insbesondere in den Dorf-Kapiteln.

Wie bereits deutlich geworden sein dürfte, handelt es sich bei Gianna Molinaris Roman um einen Roman zum Klimawandel, der auf Offenheit und Ambivalenz setzt. Er betreibt keine direkte Anklage und die Erzählung geht auch nicht in einer Dystopie auf. Anstelle dessen wird vor allem an einzelnen Beispielen gezeigt, welche Auswirkungen der Klimawandel auf Pflanzen und Tiere hat. Es wird beispielsweise von den Riesenalken erzählt, deren letzte Exemplare auf der Insel Eldey getötet wurden, oder vom Grönlandhai, der ein fast unvorstellbar hohes Alter von bis zu 500 Jahren erreichen kann. Seine Existenz ist ebenfalls bedroht, da die Tiefsee durch das Schmelzen des Eises für die Fischerei zugänglich wird. Über die Bramble-Cay-Mosaikschwanzratte weiss Lobos Oma zu berichten, dass sie Berühmtheit erlangte: «Nicht aufgrund ihres Daseins, sondern aufgrund ihres Verschwindens.» (S. 27) Die Geschichten und Beobachtungen vermitteln eine Faszination für die Natur und ihre Vielfalt, die sich auf die Lesenden übertragen kann. Gianna Molinari ist mit Hinter der Hecke die Welt ein Buch gelungen, das sich der Klimathematik mit literarischen Mitteln annimmt. Dem Verschwinden setzt es etwas entgegen, indem es davon erzählt.

Liebe Gianna Molinari, im Namen der Schweizerischen Schillerstiftung danke ich Ihnen für Hinter der Hecke die Welt und gratuliere sehr herzlich.